Nichts los*
Zwei Schafe und ein Kalb stehen auf der Weide.
„Hier ist nichts los“, eröffnet das erste Schaf ein Gespräch.
„Stimmt!“, erwidert das zweite.
„Gestern war ich auf der unteren Weide“, fährt das zweite Schaf fort.
„Und?“, unterbricht das erste.
„Auch nichts los!“, antwortet das zweite.
Das Kalb steht dabei, hört sich das interessante Gespräch an, weiß aber nichts Sinnvolles hinzuzusteuern.
Am nächsten Tag treffen sich die drei Tiere wieder auf der Weide, diesmal auf der unteren.
„Du hattest recht“, eröffnet das erste Schaf das Gespräch.
„Womit?“, will das zweite wissen.
„Dass hier auch nichts los ist“, entgegnet das erste.
„Ja, ja! Und an der Wasserstelle ist auch nichts los“, weiß das zweite.
Das Kalb steht dabei, hört sich das interessante Gespräch an, weiß aber nichts Sinnvolles hinzuzusteuern.
An den darauffolgenden Tagen hört das Kalb ähnliche Gespräche zwischen anderen ausgewachsenen Schafen. Immer wieder muss es mit anhören, dass nirgendwo etwas los sei.
‚Komisch’, ging es dem Kalb durch den Kopf‚ ‚mir ist bisher noch gar nicht aufgefallen, dass hier nichts los ist. Vielleicht bin ich einfach zu dumm, um das festzustellen.’
Am nächsten Morgen trennte sich das Kalb von den Schafen, um eigene Beobachtung darüber anzustellen, ob denn tatsächlich nichts auf der Koppel los ist. Dazu wollte es allein und ungestört sein.
Nachdem es einige hundert Meter gegangen war und sich vergewissert hatte, dass es wirklich allein und unbeobachtet war, begann es mit seiner Studie.
‚Da will ich doch mal sehen’, nahm sich die Kalb vor, ‚was auf diesem Teil der Koppel los ist.’
Es blickte zunächst geradeaus in die Ferne, konnte aber nicht über das Ende der Koppel hinaussehen. Insbesondere konnte es nichts ausmachen, was ihm interessant erschien.
Langsam drehte es sich um und schaute in die entgegengesetzte Richtung. An diesem Ende der Koppel konnte es den Waldrand sehen. Richtig unterhaltsam war das ebenfalls nicht.
Aber es verblieben ja noch zwei weitere Blickrichtungen. Das Kalb drehte sich nun um 90 Grad und nahm einige weit entfernt gelegene Häuser und eine Kirche wahr. Viel los war da auch nicht.
In dem letzten Sektor, den sie sich anschließend anschaute, nachdem sie sich wiederum um die eigene Achse gedreht hatte, sah sie Kornfelder.
‚Hier ist absolut nichts los’, war sich die Kalb nach ihren ersten aufmerksamen Beobachtungen sicher. Sie unterstrichen genau das, was die Schafe in den Gesprächen geäußert hatten.
So schnell wollte das Kalb aber nicht aufgeben.
‚Ich habe mir bisher nur die weitere Umgebung angeschaut’, sagte es sich. ‚Um mir ein abschließendes Urteil erlauben zu können‚ muss ich mir nun das nähere Umfeld auch noch genauer ansehen.’
Das Kalb richtete seinen Blick nun auf den Boden unmittelbar vor sich. Nun ließ es ihren ständig auf die Erde gerichteten Blick langsam in Richtung Ferne schweifen, um so alles wahrnehmen zu können, was sich so auf dem Boden befand.
Es sah die grüne Wiese, einige kahle, bereits abgegraste Stellen und hin und wieder einige Kuhfladen und Schafsköttel. Ja, und das war es dann auch schon.
Es drehte sich 90 Grad um die eigene Achse und wiederholte das Spiel mit dem gleichen Ergebnis.
Auch nachdem es sich noch zweimal jeweils 90 Grad um die eigene Achse gedreht und den Boden auf gleiche Weise betrachtet hatte, sah es immer das Gleiche: Es sah die grüne Wiese, die vereinzelten kahlen Stellen und die bereits erwähnten Fladen und Köttel. Die einzige Abwechslung bildete da eine alte Badewanne, die etwa 20 Meter entfernt von ihm stand und in der sich Trinkwasser befand.
‚Hier ist wirklich nichts los’, war sich das Kalb nun sicher.
In Zukunft würde es sich an den Gesprächen der Schafe beteiligen können. Insbesondere zu dem Teil der Koppel, den es gerade ausgiebig beobachtet hatte, konnte es nun anmerken, dass da wirklich nichts los ist.
Da nun mal nichts los war und es der jungen Kuh langweilig wurde, kam ihr urplötzlich eine Idee:
‚Ich versuche mich einmal auf den Kopf zu stellen. So kann ich feststellen, ob auch aus dieser Perspektive betrachtet tatsächlich nichts los ist. Das ist doch bestimmt einen Versuch wert.’
Von der eigenen Idee begeistert, startete das Kalb auch sofort mit dem ersten Experiment.
Es legte das Oberteil seines Kopfes auf den Boden und versuchte dort einen sicheren Stand zu finden. Nach einigen Versuchen war ihm dies geglückt. Nun wurde es schwieriger. Das Kalb probierte nun, sein rechtes Hinterbein vom Boden abzuheben und es in die Höhe zu strecken.
Huch, beim ersten Versuch verlor es auch sofort das Gleichgewicht und purzelte über die Koppel.
‚Das ist gar nicht so einfach’, sagte sich das Kalb. ‚Ich muss es noch einmal versuchen.’
Nach dem zweiten und vielen weiteren erfolglosen Versuchen gelang es der jungen Kuh schließlich doch, das Hinterbein leicht vom Boden abzuheben und gleichzeitig auf dem Kopf und den anderen drei Beinen sicher zu stehen.
‚Mit diesem schönen Ergebnis’, dachte sich das Kalb, werde ich mich zunächst einmal zufrieden geben. ‚Morgen werde ich meine Studie fortsetzen.’
Das Training hatte das Kalb hungrig und durstig gemacht. Als es wieder auf allen Vieren stand und sich auf den Weg zur nahegelegenen Badewanne machen wollte, um zunächst seinen Durst zu löschen, sah es sich von sechs Schafen umringt.
Völlig verunsichert bahnte sich das Kalb seinen Weg durch die Zuschauer. Erst nachdem es etwas Gras gefressen und sich an dem Wasser gelabt hatte, fühlte es sich wohler. Die Zuschauer waren ebenfalls auseinandergegangen und auf der Koppel sah es so aus, wie es auch an den Tagen zuvor ausgesehen hatte. Es war nichts los.
Am nächsten Morgen treffen sich zwei ausgewachsene Schafe auf der Weide.
„Na, wie geht’s?“, fragt das erste.
„Gut“, brachte das zweite völlig aufgeregt und frohgelaunt hervor. „Gestern war hier echt was los.“
„Ach, hier ist doch noch nie was losgewesen“, entgegnete das erste.
„Ja, dann musst du mal zu dem Teil der Koppel gehen, auf dem die alte Badewanne mit dem Trinkwasser steht“, sprühte es aus dem zweiten Schaf nur so hervor. Ohne das übliche Gespräch, dass hier eh’ nichts los sei, fortzusetzen, machte es sich auch schon auf den Weg zu dem bezeichneten Teil der Koppel.
Völlig verduzt blickte das erste Schaf hinter dem anderen her und dachte sich:
‚Na ja, wenn da was los ist, dann geh’ ich da auch mal gucken.’
In der Nähe der Badewanne hatten sich bereits acht ausgewachsene Schafe versammelt. Man wartete bereits auf das junge Kalb und unterhielt sich angeregt über das, was man hier am Vortage erlebt hatte.
Wenige Augenblicke später erschien auch schon das Kalb.
Als es sich seinen Weg durch die Menge der Schaulustigen zu der Stelle gebahnt hatte, an der es gestern seine ersten Vorübungen zum Kopfstand geübt hatte, konnte es aus Gesprächsfetzen der Schafe mithören, dass gestern richtig was los gewesen sei.
Das Kalb stutzte!
‚Ich habe das gar nicht mitbekommen’, dachte es nur. ‚Das hat bestimmt daran gelegen, dass ich noch nicht richtig auf dem Kopf stehen kann’, sinnierte es weiter. ‚Da muss ich unbedingt mit meinem Training fortfahren.’
Ohne lange zu überlegen und auch ohne auf die anderen Tiere zu achten, brachte das Kalb auch sofort den oberen Teil seines Kopfes zu Boden und versuchte das hintere rechte Bein in die Höhe zu heben. Da es das Bein jedoch zu schwunghaft anhob, purzelte das Kalb auch schon über die Koppel.
Aber schon beim zweiten Versuch gelang es besser. Das Kalb konnte über einen längeren Zeitraum sicher in dieser Position stehen und anschließend das Bein wieder absetzen.
‚Na, wer sagt’s denn!’, rief das Kalb stolz aus. ‚Als nächstes versuchte ich neben dem rechten Hinterbein auch noch das linke vom Boden abzuheben.’
Ein verdammt schwieriges Unterfangen. Immer wieder geriet das Kalb aus dem Gleichgewicht und fiel zu Boden.
Immer dann, wenn dem Kalb das Kunststück nicht gelang und es umstürzte und Hals über Kopf auf die Koppel fiel, steigerte dies den Unterhaltungswert. Es bereitete allen Zuschauern einen Heidenspaß, wenn das Kalb wieder einmal Übergewicht bekam und auf der Weide herumkugelte. Nach einhelliger Meinung aller Beobachter, und das waren nun bereits dreizehn Schafe, war schon seit Jahren nicht mehr so viel auf der Weide los wie an diesem Vormittag.
Die Übungen hatten das junge Kalb müde gemacht.
‚Ich gönn’ mir jetzt erst einmal ein kurzes Mittagspäuschen, und danach setze ich mein Training ausgeruht fort’, dachte es sich.
Nach der verdienten Pause machte sich das Kalb gleich wieder an die Arbeit.
Am späten Nachmittag gelang es ihm doch tatsächlich zum ersten Mal auf dem Kopf stehend zwei Beine für eine kurze Zeit vom Boden abzuheben und einige Zentimeter in die Höhe zu bringen.
Nachdem dieses Kunststück gelungen war und das Kalb es zum krönenden Abschluss des heutigen Tages erklärte hatte, stellte es fest, dass es von siebzehn Schafen umgeben war.
Stolz bahnte sich das Kalb seinen Weg durch die Zuschauer zur Trinkstelle. Es bekam einige Gesprächsfetzen der Schafe mit, die sich begeistert unterhielten:
„Hier ist ja echt was los!“
„Morgen bring ich meinen Bruder mit!“
„Tolle Vorstellung!“
„Soviel war hier ja noch nie los!“
Solche und ähnliche Sätze konnte das Kalb mitbekommen.
‚Eigentlich schade’, wunderte sich das Kalb nur. ‚Als ich vorgestern sehr ausgiebig auf der Koppel nachgeschaut hatte, war nichts los. Gestern soll was los gewesen sein, und ich habe nichts bemerkt. Auch heute soll was los gewesen sein, und ich habe wiederum nichts mitbekommen.’
Am nächsten Morgen war sich das Kalb nicht schlüssig, was es machen sollte.
Dann entschied es‚ für einen Tag seine Übungen einzustellen und sich zu den Schafen zu gesellen, um auch einmal mitzuerleben wie es ist, wenn etwas los ist. Langsam machte sich das Kalb auf den Weg und trottete zu der Koppel mit der Badewanne.
Es hatten sich bereits einundzwanzig Schafe versammelt und weitere sechs waren auf dem Anmarsch.
„Ach, bist Du auch wieder hier?“, hörte das Kalb ein Schaf ein anderes fragen.
„Ja klar, hier war ja an den letzten beiden Tagen richtig was los“, antwortete dieses. „Das lasse ich mir doch nicht entgehen.“
Wortlos gesellte sich das junge Kalb zu den Schafen und harrte der Dinge. Die Stunden vergingen. So sehr sich das Kalb auch bemühte, es konnte nichts ausmachen, was sich von dem unterschied, was es am ersten Tag seiner Beobachtungen hier feststellen konnte. Es war nichts los.
„Heute ist hier nichts los“, hörte das Kalb nun auch ein Schaf zu einem anderen sagen.
„Stimmt!“, erwidert das zweite. „Gestern war ich auf der unteren Weide“, fährt das zweite fort.
„Und?“, unterbricht das erste.
„Auch nichts los!“, antwortet das zweite.
Das Kalb, das in unmittelbarer Nähe steht, hört sich das interessante Gespräch an, weiß aber nichts Sinnvolles hinzuzusteuern.
Das Kalb kam jedoch ins Grübeln.
‚Wenn schon überall, wo ich hinkomme, nichts los ist, dann kann ich mich auch in Zukunft wieder meinen Kunststücken zuwenden’, dachte es. ‚Dann sind die Tage auch nicht ganz so langweilig.’
Am nächsten Morgen setzte das Kalb seine Übungen fort und es dauerte gar nicht sehr lange, bis es ihm auffiel, dass von nun an aus Sicht der anderen Schafe endlich wieder etwas los war.
Da fiel bei dem jungen Kalb der Groschen. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und es dachte:
‚Wieso begreifen die dummen Schafe das eigentlich nicht?’
* Diese Geschichte habe ich so oder ähnlich vor längerer Zeit einmal gehört oder gelesen. Ich konnte bisher nicht ermitteln, wo sie erschienen oder publiziert worden ist.